Ein warmer Sonnenstrahl schien durch eine Lücke zwischen den Vorhängen herein. Die letzten zwei Wochen hatte es andauernd geregnet. Ich mochte den Regen nicht. Er brachte immer Kälte mit sich. Beschweren konnte man sich aber hier nicht über das Wetter – die Menschen aus dem Land des Wassers liebten ihren Regen. Wasser wurde hier verehrt, auch wenn es zu viel davon gab. Im Land des Feuers, wo ich herkomme, ist Wasser eher selten zu finden. Bei uns scheint immer die Sonne über den weiten Steppen und Savannen. Und vor allem über den Lavendelfeldern.
Zwischen Wasser und Feuer gab es einen breiten Streifen Land, wo immer die Sonne schien und wo immer Wasser war. Hier lebten die meisten Menschen. So auch ich und meine Familie.
Umso weiter man in das Feuerland vordrang, umso wärmer wurde es. Und da, wo die Sommer lang waren, wo es noch genug Wasser gab, und wo das Leben ruhig war – da wohnten wir, umgeben von Lavendelfeldern. Der Lavendelduft umgab uns immer, wo wir auch waren. Drinnen, draußen sogar umso mehr. Unsere Haare hatten den Lavendelduft angenommen. Er hatte uns durchdrungen.
Doch dann wurde ich krank. Man wusste nicht, was es war. Es fing an, wie eine ganz normale Grippe. Mit Fieber, Muskelkater und allgemein Muskeln, die sich nicht bewegen wollten. Doch später stellte sich heraus, dass es mehr als eine Grippe war. Und so kommt es, dass ich heute in einer Heilstätte im Land des Wassers aufwache.
Das Wasser hier besitzt Heilkräfte, sagt man. Zwei Mal am Tag nahm ich ein heißes Bad, und spürte wie meine Muskeln sich langsam auflockerten. Die Ärzte sahen es positiv.
Das war aber leider auch das Ereignisvollste was an diesem Tag passierte. Außer aus dem Fenster schauen, blieb mir nicht viel.
Ich hob mich aus dem Bett und zog die Gardinen zur Seite. Die warme Sonne schien jetzt auch auf mein Gesicht. Ich blinzelte. Es kam mir vor, als wäre mir diese Wärme fremd geworden. Ich öffnete das Fenster. Eine Taube flog erschrocken hoch.
Von meinem Fenster aus schaute ich auf einem kleinen Hof. Es gab viele Blumen und einen kleinen Teich. Wasserlilien, Wasserkresse… doch keine Lavendel. Der süßliche Duft der Lilien roch ganz anders. Lavendel war… Aromatisch. Warm.
Als Kinder sammelten wir immer die einzelnen Blüten und Blätter auf, die nach der Ernte auf den Feldern liegen blieben. Diese nahmen wir mit nach Hause, um sie trocknen zu lassen. Es war immer lustig, wenn wir dabei ertappt wurden, meine Schwester und ich, und mein kleiner Bruder. Wir rannten dann so schnell wir konnten, damit der Bauer uns nicht erwischen konnte. Einmal ist es ihm gelungen. Da bekam ich eine Ohrfeige und musste versprechen, dass ich nie wieder klauen wurde. Am nächsten Tag aber krochen wir schon wieder durch die Büsche.
Mama schimpfte dann immer, wenn wir nach Hause kamen. Aber nur wenige Minuten später würde sie unsere Beute konfiszieren und zusammengebunden unters Dach hängen. Ob man Lilien trocknen konnte? Ich bezweifelte es.
Ich fand schon schnell heraus, dass man Lilien wirklich nicht trocknen konnte. Nicht in dieser Umgebung jedenfalls. Die feuchte Luft sorgte eher dafür, dass die Blüten vergammelten.
Da das Wetter so schön war, durfte ich am Nachmittag hinaus. Ich saß auf einer Bank am Rande des Wassers. Es war weniger warm als drinnen, eine kalte Brise wehte. Es dauerte auch nicht lange, bis das Wetter sich änderte und schwarze Donnerwolken aufzogen und ich wieder hinein musste. Meine Mission hatte ich aber erfüllt. Genauso wie damals, hatte ich jetzt eine Wasserlilie gepflückt, und heimlich mit hinein genommen, um sie aufzuheben. Die Schwester nahm die braune Pampe drei Tage später mit.
Zwei Mal am Tag baden. Das war meine einzige Routine. Meine andere Routine bestand darin, an zuhause zu denken. Ich vermisste meine Eltern. Meine Mutter war Hausfrau. Sie passte auf die Kinder und das Haus auf und konnte mich nicht besuchen. Vater auch nicht, da er, so wie jeder andere Mann, täglich auf den Feldern arbeitete. Und meine Geschwister waren zu jung, um selber so weit zu fahren. Auch wenn wir uns oft stritten… Ich vermisste sie irgendwie schon.
Mein Zustand verbesserte sich nicht, ganz im Gegenteil. Ich bekam öfters Schweißausbrüche und Atemnot. Man munkelte, ich würde nicht mehr lange leben. Ich war nicht mehr so ruhig wie ich einst war. Angst überkam mich. Die Angst, dass ich hier sterben würde, ohne alles, was ich liebte, noch mal gesehen zu haben.
Die täglichen Bäder stoppten irgendwann. Man befürchtete, dass ich dadurch nur eine zusätzliche Erkältung oder Lungenentzündung bekommen würde. Alles, was mir jetzt blieb, war im Bett zu liegen. Tag ein, Tag aus. Ich philosophierte über die Blumen draußen. Kirschblüten färbten das Gras weiß-rosa. Der kleine Teich war auch voller weißer Lilien. Die weißen Blumen wirkten so kalt auf mich. Kalt, wie das Wetter hier im Wasserland, wie die weißen Krankenhauswände und die weißen Uniformen der Schwestern. Alles in diesem Land wirkte kalt und abstoßend. Es war in diesem Moment, wo ich entschloss, nach Hause zu fahren. Es hatte keinen Sinn mehr, hier zu bleiben. Ich bekam keine Therapie, keine Behandlung – ich lag hier nur herum und meine Eltern zahlten Geld dafür. Außerdem spürte ich eine Rastlosigkeit, eine Unruhe, die von ganz tief in mir kam. Alles in mir schrie, dass ich hier weg musste, dass ich sonst erfrieren würde, erstarren in dieser Kälte.
Die Krankenhausleitung war ganz und gar nicht begeistert von der Idee. Sie hatten Angst, ich würde den Nachhauseweg nicht schaffen. Nachdem ich aber ein Dokument unterzeichnet hatte, wo ich erklärte, freiwillig gegangen zu sein, ließen sie mich raus. Es hatte gerade geregnet – wie immer. Die Bäume tropften. Ein kalter Tropfen viel in meinen Nacken und ich zuckte. Ich zog mein Schultertuch über den Kopf. Einst hatte auch dieses Tuch nach Lavendel gerochen, wie alle meine Kleider, die ich mitgenommen hatte. Doch meine Zimmernachbarin hatte sich über den Geruch beschwert. Nachdem sie drei Mal gefragt hatte, warum meine Kleider nach Omaseife riechen, wurden sie von der Krankenschwester konfisziert und so oft gewaschen, bis der Lavendelduft nicht mehr da war.
Ein Wagen war bereit mich mitzunehmen. Ich saß hinten und schaute auf die Stadt hinab, die wir hinter uns ließen. Meine Füße baumelten und strichen ab und zu über einen Grashalm, der sich mitten auf den Weg verirrt hatte. Die Pferde hatten es nicht leicht, den Hügel hinaufzukommen. Es dauerte. Der Händler meckerte, dass sie so zu spät auf den nächsten Markt ankommen würden, doch ich erwiderte, dass sie sich ruhig Zeit lassen konnten.
Es war das zweite Mal in der Zeit, in der ich da gewesen war, dass die Sonne im Land des Wassers schien,. Und nun, als ich das Land verließ, schien sie besonders hell und kräftig und wurde auch nicht von Wolken getrübt. Es war ein Zeichen für mich, dass ich die richtige Entscheidung getroffen hatte.
Dies wurde bestätigt von den Emotionen, die in mir aufkamen, als wir die Grenze zum Land des Feuers überquerten. Ich konnte formlich spüren, wie die Luft sich veränderte, wie der süßliche Geruch von Wasser, Verwesung, Lilien und nassem Hund wich, und der aromatische Duft der Blumen im Feuerland immer stärker wurde. Die Hügel um uns wurden immer trockener und kleiner. Bis man sie kaum noch als Hügel erkennen konnte. Doch die Gräser wehten und tanzten im Wind, und man sah deutlich, dass die Felder nicht flach waren.
Wir überquerten eine Brücke, die über einen kleinen Bach führte. Ich erkannte das Rauschen des Wassers, und drehte mich, schob Kisten zur Seite, um vorne aus dem Wagen schauen zu können. Tatsächlich breiteten sich vor uns weite Täler und Berge aus, allesamt lila, pink und fliederfarben. Der Wind, der aus dem Tal aufstieg, brachte den altbekannten Duft mit sich. Lavendel. Meine Rastlosigkeit der letzten Tage war wie verflogen. Ich spürte, wie der Duft mich beruhigte und zur Besinnung brachte.
Im Dorf hielten wir an, am Marktplatz. Von da aus war es nicht mehr weit bis zu unserem Haus am Rand des Dorfes. Ich lief so schnell ich konnte. Ich wollte endlich zuhause sein.
Vom Laufen bekam ich einen Stich in der Seite. Ich ignorierte ihn und rannte weiter. Es war noch früh, es waren noch nicht viele Leute wach. Unter einem Baum wuchs eine verirrte Lavendelpflanze. Hustend pflückte ich ein paar Blumen. Die Luft hier war trockener als im Land des Wassers. Es fiel mir schwer, mich zu bücken und aufzustehen, um überhaupt ein paar Schritte zu gehen. Das lag wahrscheinlich an der langen Fahrt, auf der ich mich nicht viel hatte bewegen können.
Keuchend öffnete ich die Pforte zu unserem Grundstück. Meine Schwester war gerade dabei, die Hühner zu füttern. Sie bemerkte mich nicht. Erst als Mutter aus dem Haus kam, sah sie mich und schrie. Mutter kam auf mich zu gerannt. Ich drückte ihr die Blüten in die Hand. Ich konnte nicht mehr gehen. Alles tat mir weh, meine Brust war verklemmt. Ich musste mich nur kurz hinsetzen. Meine Augen schlossen sich in einem Versuch, mehr Luft zu bekommen. Beim Einatmen roch ich den frischen Lavendel. Dieser herrliche Duft, der mich immer wieder beruhigte. Der Duft, der mich mein ganzes Leben lang begleitet hatte, war jetzt endlich wieder da. Ich lächelte.
»Mutter, ich habe dir gepflückte Blumen mitgebracht. Genau… wie damals.«
Lavandula angustifolia.
Lavendel steht für Ruhe. Die Bedeutung der Pflanze stammt aus seinen heilsamen Wirkstoffen. Der Duft der Pflanze wirkt beruhigend. Bestandteile der Pflanze sind dementsprechend auch in Beruhigungsmittel zu finden.
"Lavenduft" wurde in der Eigenproduktion "Floriographie" in 2014 publiziert.